Dr. Herbert Fritz ist ein absoluter Experte, wenn es um Afghanistan geht. Er hat das Land mehrfach bereist und war nun, nachdem die Taliban die Macht im Land übernommen haben, erneut dort, um sich ein Bild von der Situation der Menschen zu machen. Auch wenn die Wirtschaft seither auf Talfahrt ist, könne man von einer verzweifelten und unterdrückten Bevölkerung, wie das gerne in West-Medien dargestellt wird, nicht sprechen.
Ein AUF1-Exklusivinterview
Herr Dr. Fritz, Sie waren vor Kurzem in Afghanistan. Wie kommt man eigentlich überhaupt auf die Idee, ein Land als Reiseziel zu wählen, das als eines der gefährlichsten der Welt gilt?
Nun, ich hatte Afghanistan bereits 1987 zum ersten Mal besucht. Damals standen noch die sowjetischen Truppen im Land. Zwei Jahre später waren sie zwar schon abgezogen, die Kommunisten aber noch an der Macht. Ich konnte mir damals einen ersten Überblick über die aktuelle politische und militärische Situation erwerben. Obwohl mein Hauptinteresse in den folgenden Jahren anderen Gebieten galt, so habe ich die Vorgänge in Afghanistan doch stets aufmerksam verfolgt und mein Wissen über Land und Leute erweitert. Ich hielt wohl einige Vorträge über Afghanistan, schrieb auch den einen oder anderen Bericht, hatte aber keine Lust, in das besetzte Land zu reisen. Das änderte sich erst nach dem schmählichen Abzug der US-Amerikaner aus Afghanistan und der gescheiterten „Verteidigung Deutschlands am Hindukusch“. Jetzt wollte ich mir selbst ein Bild über die geänderte Lage in dem leidgeprüften Land machen – daher diese Reise... Von „gefährlich“ konnte keine Rede sein!
Herbert Fritz und sein Begleiter Fahim vor dem Schrein von Ali in Masar-e Scharif
Moschee und Schrein des Ali (Cousin und Schwiegersohn Mohammeds). Er soll hier begraben sein. Mehrere Wissenschaftler glauben, dass an dieser Stelle ursprünglich Zarathustra begraben wurde.
Nach der Niederlage der Amerikaner und ihrer Verbündeten wurde in den westlichen Mainstream-Medien sofort behauptet, dass die Lage der Bevölkerung verzweifelt sei und massenhaft Afghanen das Land verlassen wollten. Stimmt das so?
Die Lage der Bevölkerung als „verzweifelt“ zu bezeichnen, scheint mir zwar etwas übertrieben zu sein, aber unbestreitbar ist die Tatsache, dass sich die afghanische Wirtschaft, die schon vor dem Abzug der Besatzungsmächte von westlicher Hilfe abhängig war, seit der Machtübernahme der Taliban auf Talfahrt befindet. Viel Kapital und etwa 120.000 gebildete Menschen haben seitdem das Land verlassen, und die westlichen Sanktionen, die weniger die Taliban als vielmehr die Bevölkerung treffen, tun ein Übriges. Vom Geld der Besatzer und ihrer Handlanger profitierte eine Reihe von Geschäftsleuten. So erzählte mir, um nur ein Beispiel zu nennen, ein Handyverkäufer in Kabul, dass er die Miete von 200 Dollar für sein Lokal nicht mehr aufbringen kann. Früher kauften viele Franzosen bei ihm ein, jetzt ist „tote Hose“. Ähnliches hörte ich mehrmals. Auf der anderen Seite beeindruckt das rege Leben in den Basaren und vor den verschiedenen Verkaufsbuden, und auch der Autoverkehr in den Städten lässt nicht auf Verzweiflung der Menschen schließen. Ich traf auch einige junge Leute, die Afghanistan verlassen wollten. Anderseits fand ich gerade bei jungen Menschen eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber den Taliban. Die Einstellung der Bevölkerung zum aktuellen Regime ist jedenfalls – wie ich glaube – in den einzelnen Bevölkerungsgruppen und Altersstufen unterschiedlich.
Basar-Straße in Herat im westlichen Afghanistan
Die national-islamischen Taliban werden meistens als blutrünstige Schlächter dargestellt, die ihre eigenen Landsleute unterdrücken und terrorisieren. Wie sehen das die Afghanen, mit denen Sie persönlich gesprochen haben?
In Afghanistan haben wir es mit einem Vielvölkerstaat mit einer schwachen Zentralgewalt zu tun, in dem daher in der Regel Stammesgesetzen der Vorzug gegeben wird. So ist Paschtunwali der Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen, des größten Volkes Afghanistans. Es definiert neben den Rechtsgrundsätzen das Weltbild und die Wertvorstellungen, beinhaltet also die Normen und die Lebensart, nach der sich die paschtunische Gesellschaft richten soll. Das Paschtunwali gehört für die Paschtunen zu den wichtigsten Mitteln der ethnischen Identifikation. Begriffe wie „Blutrache“ sind ein unverzichtbarer Bestandteil. Die Völker bzw. Volksgruppen sind traditionell wehrhaft und kampfbereit. Seit 1979 herrscht Krieg – zumindest herrschte er bis August 2021. Grausamkeiten und Brutalitäten begingen alle Kriegsparteien. Auch, aber nicht nur, die Taliban. Das wissen die Menschen.
Berühmte Zitadelle in Herat
Vor dem Abzug der Amerikaner wurde behauptet, dass sämtliche staatlichen Strukturen sofort zusammenbrechen würden, wenn die Taliban wieder an die Macht kämen. Wie ist es aktuell um die öffentliche Ordnung bestellt? Ist es sicher zu reisen?
In dieser Frage sind sich Gegner und Anhänger der Taliban einig. Reisen in Afghanistan ist sicher. So erzählte mir Herr Farouq Azam, Ph.D., Senior Advisor im Ministerium für Energie und Wasser, in einem Interview, dass er während der 20-jährigen Besatzung seine Heimatstadt Kandahar nur per Flugzeug besuchen konnte. Der Landweg war zu gefährlich. Erst unter den Taliban kann er wieder mit dem Auto reisen. Er war schon in der Vor-Taliban-Zeit in diesem Ministerium beschäftigt. Er hatte damit keine Probleme… Übrigens, auch die Korruption ist nahezu verschwunden.
Dr. Herbert Fritz mit Ministeriumsberater Farouq Azam
Bundesdeutsche Politiker und Journalisten behaupten, dass alle, die in irgendeiner Form während der Besatzungszeit mit dem Westen kollaboriert haben, in Lebensgefahr seien, weshalb sie den Afghanen auch uneingeschränkt Asyl gewähren wollen. Gab es wirklich eine Hinrichtungswelle oder systematische Racheakte nach der Machtergreifung der Taliban?
Es hat sicher Hinrichtungen und Racheakte gegeben, aber, soweit ich das beurteilen kann, nicht mehr als bei jedem anderen Machtwechsel in diesen Gegenden.
Hochzeitspalast in der Hauptstadt Kabul im Osten Afghanistans
Wie ist es um die Wirtschafts- und Versorgungslage bestellt? Kann man in Afghanistan die lebensnotwendigen Dinge wie Nahrung, Kleidung, Alltagsgegenstände usw. kaufen? Hungern die Menschen?
Die „Aktion gegen den Hunger in Afghanistan“ hatte ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban, das heißt knapp vor Beginn meiner Reise, vor einer humanitären Krise in Afghanistan gewarnt. Fast die Hälfte der Bevölkerung sei von akutem Hunger bedroht, rund 95 Prozent hätten nicht genug zu essen. Aufgrund des kollabierten Bankensystems sei die lokale Wirtschaft am Boden. Die internationalen Sanktionen verschärften die prekäre Lage vor Ort. „Die Wirtschaftskrise betrifft alle. Menschen verkaufen ihre Möbel und Wertgegenstände auf der Straße, um an Bargeld zu kommen. Das kann so nicht weitergehen, wir müssen eine Lösung für diese durch die Sanktionen verursachte Situation finden“, kommentiert Samy Guessabi, Landesdirektor von „Aktion gegen den Hunger in Afghanistan“. Die Organisation forderte die Regierungen dazu auf, die Sanktionen zu beenden.
Markt im Gebiet der schiitischen Hazara
Drogensüchtige am Straßenrand in Kabul
Dazu meine entsprechenden Eindrücke: Auf den Straßen Kabuls wurde ich häufig von bettelnden Kindern und mehrmals auch von verschämt bettelnden Frauen angesprochen. Dreimal sah ich bei unseren Autofahrten mitten auf der Straße, dort, wo geschwindigkeitshemmende Hindernisse eingebaut waren, bettelnde Frauen mit Kindern sitzen. In den Basaren herrscht, im Gegensatz zu größeren Geschäften, lebhaftes Treiben. In einem Supermarkt konnte ich mit meiner Visa-Karte Geld abheben. Am offensichtlichsten zeigte sich der wirtschaftliche Abstieg im touristischen Bereich. In Kabul hatte ich insgesamt acht Nächte in einem 5-Sterne-Gästehaus verbracht. Ich war, bis auf eine Nacht, der einzige Gast. Viele Hotels in ländlichen Gebieten waren geschlossen. In Bamiyan, einem touristischen Höhepunkt, waren bis zum Abend unserer Ankunft nur 15 Ausländer eingereist, die meisten davon Chinesen. Allerdings: Die Restaurants waren gut besucht. Ob der wirtschaftliche Abschwung tatsächlich so tragische Ausmaße erreicht hat, wie die „Aktion gegen Hunger in Afghanistan“ prognostizierte, ist doch sehr unwahrscheinlich. Ich halte es jedenfalls für sehr übertrieben. Richtig ist die Forderung der Organisation, die Sanktionen gegen das Land sofort aufzuheben. Sie treffen viele Bereiche, deutlich sichtbar aber vor allem im Fehlen der Touristen. Auch wenn die Sanktionen nicht der einzige Grund für die dramatische wirtschaftliche Situation sind, so haben sie doch einen beträchtlichen Anteil daran.
Weitere Eindrücke bzw. Bilder aus Afghanistan:
Nachbildung des Triumphbogens als Gedenken an die Unabhängigkeit von England 1919
Namensschild des Museums in Herat. Hier wird an die Verteidigung Herats gegen die sowjetischen Truppen erinnert.
Im Museum in Herat
Ebenfalls im Museum in Herat
Dr. Herbert Fritz, geboren 1939 in Wien, ist u. a. Verfasser der Bücher „Die kurdische Tragödie“ (hier im AUF1-Shop erhältlich) und „Kampf um Palästina“ und gab jahrelang das Periodikum „Der Völkerfreund“ heraus. Er bereist seit Jahrzehnten den Nahen und Mittleren Osten und traf dabei mit Kurdenführer Abdullah Öcalan und vielen anderen hochrangigen kurdischen Politikern im autonom verwalteten Nordirak sowie dem Ministerpräsidenten der Hamas im Gazastreifen zusammen.