In Österreich wie auch der Schweiz wird massiv gegen die Neutralität gehetzt. Auf Dauer mache sich dieses Einknicken vor USA, NATO und der EU nicht bezahlt, sagt Völkerrechtler Prof. Dr. Michael Geistlinger in Teil 3 der exklusiven Interview-Reihe für AUF1.INFO.
Der Völkerrechtler Ralph Janik hatte behauptet, mit seiner Beibehaltung der Neutralität sei Österreich ein „sicherheitspolitischer Schmarotzer“. Was halten Sie von derartigen Aussagen?
Mit Verlaub und allem nötigen Respekt gesagt, halte ich das für einen Unsinn. Wie wertvoll echt geübte Neutralität im derzeitigen Krieg der Ukraine für die gesamte Welt ist, zeigt uns das NATO-Mitglied Türkei. Ohne sie gäbe es keinen Gefangenen-Austausch und wäre es schon gar nicht möglich, dass Angehörige der ultra-nationalen ukrainischen Kampfgruppen (z.B. Asow-Bataillon, Pravovoy-Sektor, Banderovcy und andere mehr) freikommen würden. Ohne die neutrale Türkei gäbe es keinen Getreide-Deal.
EU und NATO bedrohen Neutralität Österreichs
Die immerwährende Neutralität hat Österreich in den Zeiten des Kalten Krieges eine universell einmalige außenpolitische Stellung verschafft – und noch mehr hätte Österreich eine solche Chance in einem heißen Krieg, wie gerade in der Ukraine. Neutralität bedeutet aber auch Verteidigungs-Fähigkeit und Verteidigungs-Bemühungen.
Nur wären die heute gegen die EU und die NATO zu richten, denn diese beiden regionalen Organisationen bedrohen die österreichische immerwährende Neutralität, nicht Russland. Sich der EU und der NATO anzudienen, heißt Trittbrettfahren, weil man hofft, beim Stärkeren mitschwimmen zu können. Ob damit langfristig auf das richtige Pferd gesetzt wird, darf bezweifelt werden.
Herrn Janik könnte man gut und gerne die Frage stellen, wo im universellen Völkerrecht die NATO ihre Rechtsgrundlage hat, und, sollte er antworten, in Artikel 51 der UN-Satzung, wo sich denn die NATO in Libyen, Syrien, Afghanistan, Australien, Japan und in der Ukraine selbst verteidigt.
Auch der neutralen Schweiz scheint es im Fall des Russland-Ukraine-Konflikts ähnlich zu ergehen wie Österreich. Auch die Schweiz schloss sich den Sanktionen gegenüber Russland an und es werden Bestrebungen laut, die Neutralität abzuschaffen. Die Schweizer Bürger nehmen die Neutralität jedoch weitaus ernster als ihre Politiker – eine Volksinitiative zum Erhalt der Neutralität wurde ins Leben gerufen.
Stimmen wie René Rhinow sprechen nun von einer „gefährlichen Überhöhung“ der Neutralität, die die „Sicherheit und die existenziellen Interessen der Schweiz“ gefährde. Was halten Sie davon? Und welche Unterschiede gibt es in den Rechtssystemen von Österreich und der Schweiz bezüglich ihrer Neutralität?
Die Schweiz erlebt wie Österreich den Druck auf seine Neutralität nicht durch Russland, sondern durch die USA, die NATO und die EU. Auch die Schweiz verletzt ihre Neutralitäts-Verpflichtungen massiv, um wirtschaftlichen Schaden durch Handlungen dieses Staates und dieser Organisationen zu verhindern. Daher ist die genannte Initiative vorbehaltlos zu begrüßen, denn auf Dauer macht sich außenpolitisches Einknicken vor USA/NATO/EU nicht bezahlt.
Die Erde besteht nicht nur aus diesen Gruppierungen – im Gegenteil: Die Macht der USA bröckelt zusehends und alle diese Gruppierungen zusammengenommen machen eine kleine Minderheit der Weltgemeinschaft und Menschheit aus.
Neutralität in der Schweiz: UN-Beitritt erst 2002
Die Verpflichtungen aus der dauernden Neutralität der Schweiz und Österreichs sind trotz unterschiedlicher Rechtsgrundlagen – im Falle der Schweiz eines völkerrechtlichen Vertrages, im Falle Österreichs eines einseitigen völkerrechtlichen Rechtsgeschäfts – der ganzen Weltgemeinschaft und Menschheit geschuldet.
Das Moskauer Memorandum und darauf aufbauend die Regierungsvorlage zum Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität Österreichs haben Österreich auf eine immerwährende Neutralität nach Schweizer Muster festgelegt.
Österreich hat damit einen gewissen Ermessensspielraum, von der Schweizer Neutralitätspolitik abzuweichen und hat das beispielsweise getan, als es 1955 den Vereinten Nationen beitrat, während die Schweiz dies erst 2002 getan hat. Davor hatte die Schweiz neutralitätsrechtliche Bedenken gegen einen Beitritt zu den Vereinten Nationen.
Schweizer Volk handelt überlegter als Regierung: Kein EU-Beitritt
Das Schweizer Volk hat sich mehrfach als überlegter erwiesen als seine Regierung. Dass die Schweiz heute nicht der EU angehört, ist ein Verdienst des Schweizer Volkes und ein unschätzbarer Gewinn für die Schweizer Neutralität.
Österreich täte gut daran, in Neutralitäts-Fragen ebenso auf sein Volk zu hören. Unterschiede in der Neutralitäts-Politik würden sich dann schnell erledigen.