Bereits seit dem Irak-Krieg 1991 gab es in Österreich eine Reihe von Neutralitätsbrüchen. Die EU könne Österreich nicht als Deckmantel für neutralitätswidriges Verhalten dienen, sagt der Völkerrechtler Univ.-Prof. Dr. Michael Geistlinger in Teil 1 eines exklusiven Interviews für AUF1.INFO.
Herr Prof. Geistlinger, Österreich hat im Jahr 1955 seine immerwährende Neutralität erklärt, trat aber der EG bzw. EU bei und stellte auch Soldaten für die „schnelle Eingreiftruppe“ der EU zur Verfügung. Wie konnte es rechtlich dazu kommen?
Dazu konnte es nur durch Bruch seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der immerwährenden Neutralität Österreichs kommen. Dass die EU-Mitgliedschaft mit der immerwährenden Neutralität, wie sie 1989 in Österreich im Einklang mit den Jahrzehnten davor seit 1955 verstanden worden ist, mit dem Status eines immerwährend neutralen Österreichs unvereinbar war und ist, hat niemand Geringerer als die Europäische Kommission selbst festgestellt.
Bruch des Völkerrechts: Neutralität und EU-Mitgliedschaft unvereinbar
In ihrer Stellungnahme zum österreichischen Beitrittsantrag hat sie die Rechte und Pflichten des dauernd neutralen Österreichs detailreich analysiert. Die Kommission hat zwei Möglichkeiten gesehen, wie das Problem im Zuge des Beitritts gelöst werden kann: durch die Abgabe eines Neutralitätsvorbehalts oder durch Umdeutung der österreichischen Neutralität, sodass sie mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU vereinbar ist.
Bereits im Irak-Krieg 1991: Österreich hätte Neutralität nicht brechen müssen
SPÖ und ÖVP, die damals Österreich regierten, lehnten einen Neutralitätsvorbehalt ab. Sie nutzten die willkommene Gelegenheit, die der Irak-Krieg 1991 bot, um im Gleichklang mit EU und NATO mehr als 800 Überflugs-Genehmigungen für NATO-Kampfflugzeuge und Durchfuhr-Genehmigungen für Panzer zu erteilen. Sie alle waren vom Neutralitätsrecht nicht gedeckt und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte seine berühmte „Gewalt-Resolution“ so formuliert, dass Österreich seine Neutralität nicht hätte brechen müssen und trotzdem im Einklang mit der Satzung der Vereinten Nationen und den Resolutionen des Sicherheitsrats stehen hätte können.
Reihe von Neutralitäts-Brüchen folgte
Dann ging es Schlag auf Schlag. Die Verträge von Amsterdam, Nizza und Lissabon und die entsprechenden Änderungen der österreichischen Verfassung haben Österreich immer weiter in neutralitätswidriges Verhalten verstrickt. Die Beteiligung an einer Schnellen Eingreiftruppe der EU ist nur ein kleines Teilchen eines Mosaiks an Neutralitätsbrüchen. EU-affine österreichische Völkerrechtler, der Bundespräsident und das Außenministerium wollen den Österreichern weismachen, dass die Solidaritätspflichten gegenüber der EU den Neutralitätspflichten nach universellem Völkerrecht vorgehen.
EU kann nicht neutralitätswidriges Verhalten begründen
Es ist aber gerade umgekehrt. Die EU ist eine regionale internationale Organisation. Ihr Recht ist universellem Völkerrecht untergeordnet. Sie selbst ist ein Völkerrechts-Subjekt und damit an das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht und die völkerrechtlichen Verträge, die sie abgeschlossen hat, gebunden. Das völkerrechtliche Neutralitätsrecht ist weitestgehend völkerrechtliches Gewohnheitsrecht. Österreich kann und darf sich aus seinen Pflichten nach universellem Völkerrecht nicht hinausstehlen, indem es damit in Widerspruch stehende Pflichten als Mitglied einer regionalen internationalen Organisation eingeht. Die EU kann Österreich nicht als Deckmantel für neutralitätswidriges Verhalten dienen.
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Teil 2 der exklusiven Interview-Reihe mit Völkerrechtler Prof. Geistlinger wird Österreichs Neutralität im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt behandeln. In Teil 3 wird auf die Bestrebungen in Österreich und der Schweiz eingegangen, die Neutralität abzuschaffen.