Vielleicht hatte Franziska Giffey ausnahmsweise ein sicheres Gespür: „Die ganze Politik der letzten 20 Jahre wird jetzt mir angelastet“, sagte die SPD-Politikerin, die in ihrem Amt als Regierende Bürgermeisterin bislang nicht aufgefallen war. Daran ist eines richtig: Der Urnengang in der Hauptstadt war ein Misstrauensvotum gegen das Establishment. Dass sich die Wut von zwei Dritteln der Berliner – mangels Alternative – nur innerhalb der Systemparteien neu kanalisierte, zeigt: Berauscht von 28 Prozent feiert die CDU einen lediglich scheinbaren Sieg.
Der in Berlin lange Wahlabend – unter den strengen Augen internationaler Beobachter wird dieses mal sorgsam ausgezählt – mag noch Veränderungen im Detail mit sich bringen. Insbesondere, ob die Grünen bereits jetzt, oder erst bei den nächsten Wahlen das Rote Rathaus übernehmen. Doch im Kern ist die Sache klar. Die Stadt ist geteilt in ein woke-diverses Establishment, das seine Partikularinteressen im Stile einer arroganten herrschenden Klasse rücksichtslos exekutiert. Ob globalistisch orientierte Start-up-Unternehmer, die NGO-Nomenklatura, oder die in Berlin nach jahrzehntelangem Einstellungsstopp nun ebenfalls einsickernden Aktivisten im Öffentlichen Dienst: Die Grünen haben sich als Partei der Macht gefestigt.
Woke Führungs-Schicht
Eine Besonderheit der Stadt ist dabei die Rolle der Linken. Sie sammelt hier nicht nur das akademische Prekariat – also jene Straßentrupps des Establishment, die sich den Lebensstil der grünen Schickeria nicht leisten können –, sondern nach wie vor einen Teil der Ost-Berliner Traditionswähler. Gemeinsam mobilisieren sie jene, die sich das von ihnen verachtete Land zur Beute machen, oder sich zumindest als Narren am Saum der neuen „selbstgerechten Mitte“ ihre Krumen erhoffen.
Keine Alternative
Was bleibt, ist die erdrückende Mehrheit der Beherrschten, anzutreffen vor allem außerhalb des vom S-Bahn-Ring ummauerten linksgrünen Stadtkerns. Die Probleme mögen in den noblen Villen von Heiligensee andere sein als in den Plattenbauten Marzahns oder bei der deutschen Minderheit in Neukölln. Doch der Unmut ist allerorten spürbar. Anders als in den übrigen Ost-Ländern existiert in Berlin jedoch kein parteipolitisches Angebot für die Unzufriedenen. Seit ihrem Einzug ins Abgeordnetenhaus 2016 gefiel sich die AfD – erst unter Führung des einstigen NATO-Offiziers Georg Pazderski, nun unter Kristin Brinker – als Kopie von CDU und FDP.
Protestpartei CDU
Wenn der Wahlzettel keine aussichtsreiche Alternative enthält, bleiben nur Verschiebungen innerhalb des Systemkartells. Das bedeutet: Apparatschiks gehen, Apparatschiks kommen. Dieses mal war es die CDU des blassen wie unbekannten Spitzenkandidaten Kai Wegner, der vom Debakel bei SPD und FDP profitierte. 50 Prozent der Stimmen für die Union kamen von Protestwählern. Doch deren Gunst ist flüchtig.
Und nun? Die Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch sprach es am frühen Wahlabend am deutlichsten aus: Es gebe eine „klare und stabile Mehrheit. Wir leben in einer parlamentarischen Demokratie.“ Das heißt: Jarasch, vor ein paar Jahren als Kompromiss-Kandidatin an die Spitze der Grünen gehievt, verlangt den Chefposten im Rathaus. Der linke SPD-Parteiapparat – der Giffey schon 2021 zu Rot-Grün-Rot zwang – ist dabei Jaraschs bester Verbündeter.